Die Sterne erhellen das Dach des Krankenhauses. Eigentlich darf ich nachts nicht aus meinem Zimmer, aber ich lasse mir von niemandem verbieten, die Sterne zu sehen. Das Dach ist nicht dafür gedacht, dass Leute hier oben sind, das erkenne ich am wildbewachsenen Boden und dem fehlenden Geländer.
Ich möchte nicht in diesem Krankenhaus sein, aber sie lassen mich nicht gehen, also muss ich mich damit arrangieren und irgendwie das Beste daraus machen.
„Ich wusste, dass ich dich hier finden werde“, ertönt plötzlich eine männliche Stimme hinter mir. Ich erkenne sie sofort und weiß auch ohne mich umzudrehen, dass es der Junge ist, der mich in meiner Ruine gefunden hat. Ich drehe mich nicht um, ich möchte nicht, dass er hier ist, aber er bleibt und setzt sich neben mich.
Diesmal spricht er nicht, er sitzt einfach da und schaut wie ich hoch zu den Sternen.
Obwohl ich ihn erst einen Tag kenne, kann ich seinen Stern schon sehen. Er scheint hell, jedoch etwas dunkler als der Stern meiner Schwester. Ich schaue kurz zu ihm rüber, doch bevor er seinen Blick ebenfalls von den Sternen abwendet, schaue ich wieder nach oben. Ich will seinem Blick nicht begegnen, also schaue ich stattdessen zurück zu seinem Stern. Zu meinem Entsetzen sehe ich, dass er ein kleines bisschen dunkler ist als zuvor.
Ich habe so etwas noch nie gesehen. Normalerweise verblasst ein Stern sehr langsam. Jeden Tag etwas dunkler bis die Person stirbt. Aber er ist vollkommen gesund … Sein Stern war vor ein paar Sekunden noch so hell und jetzt muss ich mitansehen, wie er von Sekunde zu Sekunde mehr und mehr verblasst. Mein Blick schnellt zurück zu ihm und ich starre ihn an, um etwas zu finden, was ihn bald töten könnte, aber ich kann nichts Ungewöhnliches finden.
Er merkt, dass ich ihn ansehe, also wendet er sich zu mir und lächelt mich an.
„Was ist los?“, fragt er mit weicher Stimme.
Ich kann ihm nicht antworten und selbst wenn ich könnte, wüsste ich nicht was ich ihm sagen sollte. Mein Blick geht zurück zu seinem Stern, aber es fällt mir schwer, ihn zu finden, weil er inzwischen so dunkel ist. Endlich finde ich ihn, aber das kleine Licht zeigt mir, dass er in den nächsten fünf Minuten sterben wird, wenn sein Licht weiterhin so schnell verblasst. Während ich völlig in Panik gerate, schaut er nur weiter seelenruhig in den Himmel. Während ich mir Sorgen um sein Leben mache, ist er völlig entspannt.
Meine Augen wechseln immer wieder zwischen ihm und seinem Stern hin und her, aber nach ein paar Sekunden erstarrt mein Blick auf etwas ganz anderem. Genauer gesagt, auf dem Rand des Daches. Das Dach ohne Geländer…
„Du solltest gehen!“, sage ich laut. Ich weiß, ich werde es noch schlimmer machen, wenn ich mit ihm spreche, aber ich muss ihn von diesem Dach wegbringen. Meine Gefühle sagen mir, er wird auf diesem Dach sterben und wenn es um den Tod geht, kann ich normalerweise meinen Gefühlen vertrauen.
„Warum sollte ich gehen? Wenn du allein sein willst, kannst du gerne gehen“, antwortet er.
„Vertrau mir! Geh weg oder du wirst es bereuen!“, sage ich mit einem besorgten Blick zu seinem Stern. Meine Worte machen es noch schlimmer, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, um sein Leben zu retten. Er ist zu jung, um zu sterben.
„Vertrau mir, wenn ich sage, dass ich weiß, was für mich am besten ist“, sagt er immer noch völlig ruhig und steht auf. Für einen Moment denke ich, er würde gehen, aber er schlendert einfach herum.
Ich stehe ebenfalls auf und packe verzweifelt seinen Arm. „Wir gehen jetzt!“
„Du musst mir nicht sagen, was ich tun werde“, sagt er und zieht seinen Arm weg. Wahrscheinlich dachte er, ich sei stärker als ich tatsächlich bin, weil er so viel Kraft einsetzt, um seinen Arm wegzuziehen, dass er plötzlich rückwärts stolpert.
„Nein!“, schreie ich, aber es ist schon passiert. Sein Fuß trifft auf Luft statt auf Boden und er fällt.
Sofort schießt mein Blick hoch zu seinem Stern.
Sein Licht geht aus und wird niemals zurückkommen. Es bleibt ein kleines dunkles Loch am Sternenhimmel und ein kleines dunkles Loch in meinem Herzen.
Es ist meine Schuld, weil ich dachte, ich könnte sein Schicksal ändern. Er war der erste Mensch, der mich seit Jahren zum Lachen gebracht hat und ich wollte nicht wahrhaben, dass sein Leben jetzt schon vorbei ist.
Ich bin gefährlich, auch wenn ich jemand beschützen will – oder vielleicht auch ganz besonders dann, wenn ich jemanden beschützen will.