Schicksalsstern (2/2) (KG)

Die Sterne erhellen das Dach des Krankenhauses. Eigentlich darf ich nachts nicht aus meinem Zimmer, aber ich lasse mir von niemandem verbieten, die Sterne zu sehen. Das Dach ist nicht dafür gedacht, dass Leute hier oben sind, das erkenne ich am wildbewachsenen Boden und dem fehlenden Geländer. 
Ich möchte nicht in diesem Krankenhaus sein, aber sie lassen mich nicht gehen, also muss ich mich damit arrangieren und irgendwie das Beste daraus machen. 
„Ich wusste, dass ich dich hier finden werde“, ertönt plötzlich eine männliche Stimme hinter mir. Ich erkenne sie sofort und weiß auch ohne mich umzudrehen, dass es der Junge ist, der mich in meiner Ruine gefunden hat. Ich drehe mich nicht um, ich möchte nicht, dass er hier ist, aber er bleibt und setzt sich neben mich.
Diesmal spricht er nicht, er sitzt einfach da und schaut wie ich hoch zu den Sternen.
Obwohl ich ihn erst einen Tag kenne, kann ich seinen Stern schon sehen. Er scheint hell, jedoch etwas dunkler als der Stern meiner Schwester. Ich schaue kurz zu ihm rüber, doch bevor er seinen Blick ebenfalls von den Sternen abwendet, schaue ich wieder nach oben. Ich will seinem Blick nicht begegnen, also schaue ich stattdessen zurück zu seinem Stern. Zu meinem Entsetzen sehe ich, dass er ein kleines bisschen dunkler ist als zuvor. 
Ich habe so etwas noch nie gesehen. Normalerweise verblasst ein Stern sehr langsam. Jeden Tag etwas dunkler bis die Person stirbt. Aber er ist vollkommen gesund … Sein Stern war vor ein paar Sekunden noch so hell und jetzt muss ich mitansehen, wie er von Sekunde zu Sekunde mehr und mehr verblasst. Mein Blick schnellt zurück zu ihm und ich starre ihn an, um etwas zu finden, was ihn bald töten könnte, aber ich kann nichts Ungewöhnliches finden. 
Er merkt, dass ich ihn ansehe, also wendet er sich zu mir und lächelt mich an. 
„Was ist los?“, fragt er mit weicher Stimme. 
Ich kann ihm nicht antworten und selbst wenn ich könnte, wüsste ich nicht was ich ihm sagen sollte. Mein Blick geht zurück zu seinem Stern, aber es fällt mir schwer, ihn zu finden, weil er inzwischen so dunkel ist. Endlich finde ich ihn, aber das kleine Licht zeigt mir, dass er in den nächsten fünf Minuten sterben wird, wenn sein Licht weiterhin so schnell verblasst. Während ich völlig in Panik gerate, schaut er nur weiter seelenruhig in den Himmel. Während ich mir Sorgen um sein Leben mache, ist er völlig entspannt.
Meine Augen wechseln immer wieder zwischen ihm und seinem Stern hin und her, aber nach ein paar Sekunden erstarrt mein Blick auf etwas ganz anderem. Genauer gesagt, auf dem Rand des Daches. Das Dach ohne Geländer…
„Du solltest gehen!“, sage ich laut. Ich weiß, ich werde es noch schlimmer machen, wenn ich mit ihm spreche, aber ich muss ihn von diesem Dach wegbringen. Meine Gefühle sagen mir, er wird auf diesem Dach sterben und wenn es um den Tod geht, kann ich normalerweise meinen Gefühlen vertrauen.
„Warum sollte ich gehen? Wenn du allein sein willst, kannst du gerne gehen“, antwortet er.
„Vertrau mir! Geh weg oder du wirst es bereuen!“, sage ich mit einem besorgten Blick zu seinem Stern. Meine Worte machen es noch schlimmer, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, um sein Leben zu retten. Er ist zu jung, um zu sterben.
„Vertrau mir, wenn ich sage, dass ich weiß, was für mich am besten ist“, sagt er immer noch völlig ruhig und steht auf. Für einen Moment denke ich, er würde gehen, aber er schlendert einfach herum.
Ich stehe ebenfalls auf und packe verzweifelt seinen Arm. „Wir gehen jetzt!“
„Du musst mir nicht sagen, was ich tun werde“, sagt er und zieht seinen Arm weg. Wahrscheinlich dachte er, ich sei stärker als ich tatsächlich bin, weil er so viel Kraft einsetzt, um seinen Arm wegzuziehen, dass er plötzlich rückwärts stolpert.
„Nein!“, schreie ich, aber es ist schon passiert. Sein Fuß trifft auf Luft statt auf Boden und er fällt.
Sofort schießt mein Blick hoch zu seinem Stern. 
Sein Licht geht aus und wird niemals zurückkommen. Es bleibt ein kleines dunkles Loch am Sternenhimmel und ein kleines dunkles Loch in meinem Herzen. 
Es ist meine Schuld, weil ich dachte, ich könnte sein Schicksal ändern. Er war der erste Mensch, der mich seit Jahren zum Lachen gebracht hat und ich wollte nicht wahrhaben, dass sein Leben jetzt schon vorbei ist. 
Ich bin gefährlich, auch wenn ich jemand beschützen will – oder vielleicht auch ganz besonders dann, wenn ich jemanden beschützen will. 

Schicksalsstern (1/2) (KG)

Die Treppenstufen unter meinen nackten Füßen sind kalt, aber das ist mir völlig egal – so wie die meisten Dinge, die mir geblieben sind. Alles, was mir früher wichtig war, musste ich aufgeben bis mir nur noch diese eine Sache geblieben ist. Diese eine Sache, zu der ich gerade auf dem Weg bin. Ich bin auf dem Weg zu dem einzigen, was mir in meinem nutzlosen Leben wichtig ist. Ich bin auf dem Weg zu den Sternen. 
Auf dem Weg zu meinem einzigen Fenster zur Welt dort draußen. 
Nach zwei weiteren Schritten bin ich endlich da. Der Blick vom Dach zu den Sternen bringt mich immer zum Lächeln. Das Flachdach der leeren Ruine, in der ich wohne, ermöglicht es mir dort mit dem perfekten Blick auf die Sterne zu sitzen. Wenn ich zu ihnen hochschaue, fällt mein Blick immer als erstes auf den Stern meiner Schwester. Er scheint hell auf mich herunter. Natürlich tut er das … Sie ist ein Kind. Sie hat noch viel Zeit vor sich und ich habe nie mit ihr gesprochen. 
Der zweite Stern, den ich sehe, ist der Stern meiner Mutter, der jede Nacht dunkler wird. Ich weiß, dass das Licht mir das Leben zeigt und ich weiß auch, dass jedes Mal, wenn ein Stern aufhört zu leuchten, ein Mensch aufhört zu atmen. Das Licht eines Sternes nimmt ab, wenn die Lebensenergie eines Menschen abnimmt. Im Falle meiner Mutter ist es meine Schuld. Ich habe so viel mit ihr gesprochen, als ich zu jung war, um zu verstehen, was meine Stimme mit ihrem Leben macht.
Ich setze mich auf den Boden und betrachte die verschiedenen Sterne der Leute, die ich früher jeden Tag gesehen habe – Nachbarn, Freunde meiner Schwester und meiner Mutter. Letztere hat mich niemals mit ihnen reden lassen, aber ich habe mir immer vorgestellt, wie ihre Leben wohl aussieht und wie ich eines Tages mit ihnen rede.
Plötzlich wird der stille Moment von Stimmen unterbrochen, aber ich bin zu schockiert, um mich zu bewegen. Die Stimmen werden immer lauter; Die Personen müssen näher kommen. 
Näher an diesen Ort.
Näher an mich. 

Dieser Gedanke holt mich schließlich aus meiner Schockstarre. Nach dem Bruchteil einer Sekunde stehe ich auf den Beinen und bin bereit wegzulaufen. Ich bin gefährlich und muss diese Leute vor mir beschützen. 
Schritte auf der Treppe. 
Ich bin völlig in Panik, denn die Treppe, auf der ich die Schritte höre, ist mein einziger Ausweg von diesem Dach. Das einzige, das mir übrigbleibt ist, mich hier zu verstecken und zu hoffen, dass sie weggehen, ohne mich zu sehen.
Ich setze mich neben einen schmutzigen Stuhl, hoffentlich versteckt von der Dunkelheit. Gerade rechtzeitig bevor die erste Person das Dach betritt. Ich sehe nur ein Paar Schuhe, denn ich traue mich nicht meinen Kopf zu heben. Jede Bewegung könnte mich verraten.
„Hey Leute, kommt her!“, ruft die Person mit einer männliche Stimme die Treppe hinunter. Er ist nicht mehr als einen Meter von mir entfernt. Jemand anderes ruft etwas zurück, aber ich bin zu panisch, um es zu verstehen. Warum sind diese Jungs in mein Haus gerannt?
Es ist so abgelegen, so zerfallen, so unscheinbar.
Ich schiebe mich noch weiter Richtung Hauswand, um noch weniger gesehen zu werden. 
Knartz.
Ein Stein, den ich ausversehen berührt habe, hat einen kleinen Laut gemacht und ich könnte mich selbst schlagen für meine Dummheit. Der Laut war nur ganz leise, aber bei der Stille hier draußen im Nichts, muss der Junge es gehört haben. 
„Oh, was haben wir denn da?“, sagt der Junge und ohne ihn anzusehen, weiß ich, dass er mich entdeckt hat. Ich schaue auf meine Knie und traue mich nicht einmal zu atmen. 
„Was hast du hier oben gefunden?“, fragt eine andere männliche Stimme. 
„Wie schön der Blick von hier oben ist“, sagt eine weitere Stimme.
Die drei führen ein kurzes Gespräch und ich hoffe, dass der Junge mich vergessen hat, auch wenn das ungefähr so wahrscheinlich ist wie das ich meine Schwester je wieder sehe. 
Ich ziehe die Knie noch fester an die Brust und versuche noch kleiner zu werden und noch mehr in der Dunkelheit zu verschwinden. 
Ich höre Schritte auf mich zu kommen. „Dann lass uns doch mal sehen, was wir hier haben“, höre ich die Stimme des Ersten. 
„Ein kleines Mädchen.“
Ich bin 16 und nicht klein, aber ich sage nichts. Meine Stimme ist so gefährlich wie meine Existenz, also muss ich mich zurückhalten.
„Was machst du denn hier alleine, kleines Mädchen?“, fragt er mich, aber ich schweige. Solange ich mich nicht bewege oder spreche, kann ich sie nicht wirklich verletzen. Solange ich nicht spreche, kann ich ihnen nicht ihre Lebenszeit stehlen.
Die plötzliche Berührung einer Hand an meinem Bein lässt mich aufschrecken und schließlich doch aufschauen. Der Junge hat sich neben mich gehockt und sieht mich aus gespannten Augen an. 
Ich schaue einige Sekunden in seine Augen, doch bewege mich nicht. 
Er scheint zu verstehen, dass ich nichts sagen werde, also steht er wieder auf und geht zurück zu seinen Freunden. 
In den nächsten Minuten kann ich sie auf ihren Handys tippen und flüstern hören, aber zu leise, als dass ich etwas verstehen könnte.

Zehn Minuten später weiß ich die Antwort. Sie haben einen Krankenwagen gerufen, um mich abholen zu lassen, weil sie dachten, ich sei ein verlorenes Mädchen. 
Inzwischen sitze ich im Krankenhaus, weil sie mich dazu gezwungen haben, mitzukommen. Ein Arzt steht vor mir und versucht herauszufinden, wer ich bin und wo meine Familie ist, aber ich schweige.
„Kann ich versuchen, mit ihr zu reden?“, fragt der Typ vom Dach. Ich weiß nicht, wo die anderen beiden Jungs sind, aber er wollte unbedingt mit uns im Krankenwagen herfahren.
Der Arzt stimmt zu, er hofft wohl, dass ich mit dem Jungen sprechen werde, aber das werde ich nicht.
„Hey, kleines Mädchen“, beginnt er das Gespräch und nervt mich schon wieder damit. 
Ich hätte nicht gedacht, dass nachdem ich jahrelang keine Stimme mehr in echt gehört habe, das die ersten Worte sein würden. 
Jahrelang habe ich mich erfolgreich versteckt und dann kommen diese blöden, abenteuerlichen Jungs und machen alles kaputt. 
„Möchtest du mir sagen, wie es dazu kommt, dass ein kleines Mädchen wie du allein auf einem Dach sitzt?“, fragt er und ich wundere mich, ob er wirklich denkt, dass man so mit jemandem reden würde, der verschreckt ist. 
„Verdreckte Kleidung, keine Schuhe – du bist schon länger als ich mir vorstellen möchte nicht mehr in einem richtigen Zuhause gewesen, oder?“, fragt er weiter und ich hebe schließlich den Kopf, um ihm wenigstens durch meinen Gesichtsausdruck zu zeigen, dass er mich nervt. 
Ein Blick in meine Augen und er verstummt. Er wendet sich zu dem Arzt und sagt leise: „Wenn Blicke töten könnten… Ich glaube dieses kleine Mädchen wird nicht einfach.“
„Ich bin nicht klein“, krächze ich ohne es meinem Mund erlaubt zu haben. 
Scheiße! 
Das einzige, was ich tun muss, ist zu schweigen und nicht einmal das schaffe ich.
„Oh! Sie spricht“, scherzt er und einer seiner Mundwinkel hebt sich. Er macht einen Schritt auf mich zu, wohl in der Erwartung, dass ich jetzt noch weiter sprechen werde. 
„Können wir uns jetzt doch noch unterhalten?“, fragt er und erhält natürlich keine Antwort von mir. 
„Dann fange ich einfach an“, meint er, setzt sich neben mich auf mein Krankenhausbett und beginnt mir von sich zu erzählen. 
Obwohl ich die nächsten zwanzig Minuten nicht mehr spreche, setzt er seinen Monolog unbeirrt fort. Ein paar Mal bringt er mich zum Lachen und für jemanden, der sehr lange nicht mehr gelacht hat ist das allein schon eine sehr besondere Sache. 

Fortsetzung folgt … 

Abonnieren, um nichts mehr zu verpassen!